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Die Krötenprinzessin

Unvollendetes Glossar zu Walli Höfingers Striptease
von Dr. Stefanie Wenner

Striptease: Frauen ziehen sich für Männer aus, meistens tanzend und bekommen dafür Geld, Moneten, Kröten. Der Striptease scheint das Paradigma des weiblichen Körpers als Objekt des männlichen Blicks zu sein. Die Schaulust ergötzt sich an den raffinierten Verzögerungen einer sich entkleidenden Frau, die die Kunst des Tanzes beherrscht, der Verführung, des nie eingelösten Versprechens. Allen Legenden zum trotz geht dieser Tanz wohl nicht auf den Schleiertanz der Salome zurück, sondern ist vielmehr eine Erfindung des Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Anfang des 20. Jahrhunderts machte Mata Hari von sich reden, Anita Berber folgte im Berlin der 20er Jahre mit nacktem Ausdruckstanz, beide stellen Vorläufer des Striptease dar, der erst in den 50er Jahren in Deutschland als erotischer Schönheitstanz zum elementaren Bestandteil der noch jungen Sex-Industrie wurde. Leszek Kolakowski hat eine kleine “Erkenntnistheorie des Striptease” geschrieben. Er erinnert an die Genesis, die Vertreibung aus dem Paradies als Folge des verbotenen Genusses der Frucht vom Baum der Erkenntnis, die zu Scham führte. Nicht ob der begangenen Tat und der damit erworbenen Schuld, sondern ob der Nacktheit schämte sich das erste menschliche Paar und macht damit, so Kolakowski, am Anfang von jüdisch-christlicher Geschichte klar, dass Nacktheit ein Kulturprodukt ist. Mit der Kleidung wird dann verborgen, was die wahre Natur des Menschen ist, seine Tierheit. Kolakowski schreibt von der widersprüchlichen Teilhabe des Menschen an zwei Ordnungen – der Natur und der Kultur. Er sieht den Striptease als (selbstverständlich mißglückten) “Versuch einer Synthese der beiden rivalisierenden Ordnungen, die das Menschsein mitbestimmen.”[1] Was so schön begann, als Lektüre des Striptease in erkenntnistheoretischer Absicht, endet in alten Mustern, denn es zieht sich aus – die Frau, die damit sowohl Wahr- wie Tierheit zu verkörpern scheint, es blickt an – der Mann, das Erkenntnissubjekt. Ausziehen also hat mit Wahrheit zu tun, biblisch gesprochen mit Erkenntnis. Sie erkannten sich als Mann und als Frau heißt es da, schön gesagt, aber was um Himmels willen heißt das? Fest steht, dass der weibliche Körper, der im Striptease zur Schau gestellt wird, ein erarbeiteter ist. “Zieh’ dich aus, aber sei jung, schlank und gebräunt”, sagte Michel Foucault irgendwo einmal, der die sexuelle Revolution und Befreiung als Farce enttarnte, als Strategie der Macht, die anonym bleibt und dennoch wirkt. Wie aber kommt man da heraus? Subversive Affirmation könnte eine Strategie sein, also Identifikation und Übertreibung dessen, was eigentlich der Gegenstand von Kritik werden soll. Die Zuschauer werden in die Position von Voyeuren gebracht, die mit herstellen, was im Verlauf von Walli Höfingers Striptease erst kritisiert und dann verabschiedet wird. Das meint etwas anderes als Performativität, die von Judith Butler als Mittel der Subversion gefeiert wurde.
Subversive Affirmation Als subversive Affirmation oder Überidentifizierung bezeichnet man eine Strategie der Identifikation mit der herrschenden Ordnung, wobei diese beim Wort, also ernster genommen wird, als sie sich selber nimmt. Inke Arns schreibt: “Im Unterschied zu kritischer Distanz haben wir es bei subversiver Affirmation und Überidentifizierung vielmehr mit einer Kritik als ästhetische Erfahrung zu tun, der es um ein Erleben dessen geht, was kritisiert wird. (Hervorhebung von mir S.W.)” Insbesondere die slowenische Gruppe Neue Slowenische Kunst (NSK) und mit ihnen Laibach arbeiten mit diesen Mitteln.
Performativität Ausgehend von J.L. Austins Buch “How to do things with words” lassen sich Sprechakte als Handlungen verstehen, die Realität herstellen. “Ja” als Antwort auf die Frage, “Nehmen Sie die hier anwesende Walli Höfinger zur Frau?” stellte ein neues Rechtsverhältnis und damit eine neue Realität her. Die Auskunft “Es ist ein Mädchen!” nach der Geburt eines Kindes bedeutet nicht eine Beschreibung einer Naturtatsache, sondern stellt diese erst her. Wie Tätowierungen markieren Aussagen dieser Kategorie Menschen und stellen Differenz ebenso her wie Ähnlichkeit. Performativität meint, dass ein Zusammenhang, der scheinbar nur beschrieben wird, durch diese Beschreibung erst hervorgebracht wird. Judith Butler schlug vor, diesen Effekt subversiv zu nutzen. Durch die Sichtbarmachung verschiedener Praktiken unterschiedlicher Gruppen und Individuen würde die Identitätslogik unterwandert und pluralisiert.
Blick: In seinem feministischen Buch “Die männliche Herrschaft” korrigiert der Soziologe Pierre Bourdieu den Philosophen Jean-Paul Sartre: Dieser hatte das Hegel’sche Paradigma von Herr und Knecht auf den Blick übertragen. Durch die potentielle Anwesenheit eines Anderen seien wir ‘immer schon’ im Blick und befänden uns an unsichtbarer Leine – in der Gewalt eines undurchschaubaren Regimes von Blicken. Bourdieu sagt, ja, aber: “Der Blick ist nicht ein einfaches, allgemeines und abstraktes Objektivierungsvermögen, … Er ist ein symbolisches Vermögen, dessen Wirksamkeit abhängt von der relativen Position dessen, der wahrnimmt, und dessen, der wahrgenommen wird, sowie dem Grad, in dem die Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata von dem, auf den sie angewandt werden, gekannt und anerkannt werden.”[2] Damit legt er nahe, dass Subordination unter ein Regime von Blicken kulturell codiert ist. Was im Kontext einer westlichen Gesellschaft, einer städtischen Situation für Regeln gelten, kann differieren, bisweilen sogar stark. Wien oder Berlin kann schon einen Unterschied bedeuten, im Verhältnis zu anderen Kulturen kann das Regime von Blicken kollabieren oder gänzlich anders funktionieren. Hier aber gilt, dass das symbolische Vermögen des Blicks seine Wirksamkeit am besten entfaltet, wenn es unreflektiert bleibt. Im Klartext: Was wir nicht erkennen, wovon wir nichts wissen, das beherrscht uns am allermeisten, jedenfalls, wenn wir uns in der Kultur bewegen, die unseren Individuierungsprozeß generiert hat. Pierre Bourdieu: “Die männliche Herrschaft konstituiert die Frauen als symbolische Objekte, deren Sein ein Wahrgenommen werden ist. Das hat zur Folge, daß die Frauen in einen andauernden Zustand körperlicher Verunsicherung oder, besser, symbolischer Abhängigkeit versetzt werden: Sie existieren zuallererst für und durch die Blicke der anderen, d. h. als liebenswürdige, attraktive, verfügbare Objekte.”[3] Junge Frauen hungern, manche sogar bis zum Tod, verleugnen ihren Körper, bringen sich damit vielleicht in Sicherheit und negieren den Status als Objekt von Blicken. Dass die Frau als angeblickte existiert, als Objekt eines männlichen Blicks, mindestens in westlichen Gesellschaften der Seite der Ästhetik zugeordnet und damit abgewertet wurde, haben Feministinnen bereits in den 80er Jahren moniert. Laura Mulvey hat sogar schon in den 70er Jahren mit ihrem bahnbrechenden Aufsatz Visuelle Lust und narratives Kino eine umstrittene Position eingenommen, die Männlichkeit, Aktivität und Blick gleichsetzte, während Weiblichkeit, Passivität und Angeblickt-werden auf der anderen Seite gleichgesetzt wurden. Der Post-Feminismus der 90er Jahre versprach, die Kategorie Gender zu killen und damit den Sprung jenseits dieser überkommenen Dichotomien des Geschlechterdualismus zu schaffen. Die Frauenfrage schien nicht mehr en vogue, das Geschlechterthema zu Sozialkitsch zu verkommen. Aber mitnichten. Zu Beginn des 3. Jahrtausends ist das Thema – mindestens in Deutschland – plötzlich wieder in aller Munde. Die Machtfrage taucht als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Reproduktion wieder auf. Der in den 70ern von Feministinnen vielfach geforderte Gebärstreik scheint unter der Hand Realität geworden zu sein. Menschliche Körper, die gerade in dem, was natürlich zu sein vorgibt, gesellschaftlich produziert werden, erscheinen zunehmend als Problem. Der Mann hat in unserer Gesellschaft nach wie vor die herrschende Position, auch wenn diese Herrschaft ihren Preis hat.
Hegel’sche Paradigma von Herr und Knecht Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) Mitbegründer des sogenannten deutschen Idealismus, seine zentrale Denkfigur war die Dialektik, der er eine neue Wendung verlieh. Alles was ist, hat auch einen Gegensatz, eine These eine Antithese und dieser Gegensatz gelange zu Wahrheit in einer Synthese, die nicht ein neues Drittes, sondern vielmehr die Aufhebung des Gegensatzes bedeute. Das Paradigma von Herrschaft und Knechtschaft ist ebenfalls dialektisch strukturiert. In einem fiktiven Kampf auf Leben und Tod habe der Knecht sich vor dem Tod gefürchtet und sich daher dem Herrn unterworfen, dem er nun dienen müsse. Er bearbeitet die Natur für den Herrn, der die Produkte der knechtischen Arbeit nur genießt. Damit aber gerät der Herr in unsichtbare Knechtschaft, den er bedarf ja des Knechts, um die Früchte der Arbeit genießen zu können. Das auch war eine zentrale Inspiration für Marx, der sagte, man müsse die Hegel’sche Dialektik vom Kopf auf die Füße stellen. Für die Position des Voyeurs im Striptease ist das nicht unbedeutend, ebensowenig wie für die männliche Herrschaft.
Post-Feminismus Insbesondere infolge des Erfolgs von Judith Butler’s Buch “Gender Trouble” wurde der Femismus älteren Datums in den 90er Jahren einerseits radikalisiert, andererseits verbreitert. Butler geht davon aus, dass nicht nur das soziale Geschlecht gender gesellschaftlich konstruiert sei, sondern radikal dekonstruktivistisch auch von der Konstruktion des biologischen Geschlechtes, sex. Es gebe nicht zwei, sondern mehr Geschlechter. Hierzu werden Beispiele aus ethnologischer Forschung zitiert, die Gesellschaften untersuchten, in denen drei oder mehr Geschlechter unterschieden werden. Auch der Hermaphrodismus wird behandelt. Es entsteht eine Kritik am Heterosexismus des Patriarchats, der das Paar zwischen Mann und Frau zur Norm mache, die Ausschluß und Gewalt für alle anderen bedeutete. Die Logik des Anderen, des Fremden erfuhr eine Aufwertung und die dazu im Gegensatz stehende Identitätslogik des Gleichen und Ähnlichen eine Abwertung. Ziele der sogenannten ersten und zweiten Frauenbewegung wie “Lohn für Hausarbeit” galten vielen als veraltet. Es entstand insbesondere in Deutschland eine erbitterte Debatte unter Feministinnen. Während einige sich an körperlicher Differenz orientierten, verflüssigten andere diese Differenzen und nannten erstgenannte essentialistisch und reaktionär. Das alles hat Judith Butler nicht gewollt. Sie hat das in einem späteren Buch “Körper von Gewicht” klargestellt und sich auf die phänomenologische Philosophie in der Tradition Maurice Merleau-Ponty’s bezogen. Heutige Debatten sind weniger stark von den Polarisierungen der 90er Jahre gekennzeichnet. Es hat sich gezeigt, dass neben den Erkenntnissen feministischer Philosophie und Genderfragen die politische Dimension des Feminismus als einer Gegenbewegung zum herrschenden Patriarchat unter den ideologischen Grabenkämpfen gelitten hat.
Geburt: Synonyme: Abkunft, Abstammung, Anbruch, Anfang, Ankunft, Auftakt, Ausgangspunkt, Beginn, Entbindung, Entstehung, Herkommen, Herkunft, Keim, Lebensbeginn, Niederkunft, Quelle, Ursprung, Wiege.
Die Geburt ist das Skandalon der menschlichen Existenz. Wir kommen nicht einfach nur zur Welt, sondern wir werden – noch immer – von Frauen geboren. Im dunklen Uterus entsteht das Leben, auch wenn es manchmal heute extern gezeugt wird, in vitro. Schon die antiken Mythen beschäftigten sich ausführlich mit diesem Thema. Da werden Kinder von Männern ausgetragen und aus dem Bein entbunden. Manche stirbt bei der Geburt eines wiedergeborenen Gottes, um später unter anderem Namen wieder aufzutauchen. Pferde werden von Menschen geboren, das Haupt der Medusa droht, goldene Bräute werden in schwarze verwandelt, Schweine und Kröten als Verkörperungen von Weiblichkeit inszeniert. Immer aber leben Götter und Menschen in Beziehungen, verdichten sich Themen in enigmatischen Figuren, deren Lesbarkeit heute fraglich scheint. Aus einem langen und tiefgreifenden Prozess, einer Schwangerschaft, die in der Natur ihresgleichen sucht, ist Walli Höfingers Stück entstanden. Die Prinzessin, alte Märchenfigur und unsterbliche Jungfer taucht hier wieder auf, ebenso wie die Kröte, das schleimige-garstige Tier der Verwandlung, Symbol der Gebärmutter, von Schwangerschaft und Geburt. Wir werden als Zuschauer zu Zeugen eines performativen Protokolls der Zeugung und Geburt eines Neuen, das tiefer im Imaginären angesiedelt ist, als sogenannte gesellschaftliche Rollen und nichts zu tun hat mit Selbsterfahrung, denn das Selbst wird zum Thema, zur Frage, nicht zu sicherzustellender Instanz. Und da Mythen nicht gemütlich sind, wie Gerburg Treusch-Dieter immer sagte, und das Selbst vielleicht eine Mythenproduktionsmaschine ist, ist auch dieser Striptease nicht gemütlich, nicht beruhigend, auch nicht lustvoll erregend. Was aber ist er dann? Vielleicht:
Zweite Geburt: Immerhin werden wir – auch das ist wahr, sogar real, – nackt geboren. Hier geht es aber nicht um ein zurück zum Ursprung, eher um Ursprungsmythen. Walter Benjamin hat Ursprung als zugrundeliegende Form verstanden, nicht als Anfangsereignis, sondern in strukturellem Sinne. Zweite Geburt markierte so gesehen keine Wiedergeburt, sondern eignete sich das Fremde an, das dieses Ich ist. Vielleicht hatte der notorische Briefeschreiber Franz Kafka solches im Sinne, als er seine angebetete und bisweilen mit mehreren Briefen täglich bedachte Felice darüber informierte: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ Die körperliche Existenz in der Welt verleiht keine Gewißheit, die Frage bleibt, wer ist dieses ich? Und das entsteht bei Kafka im Prozeß des Schreibens. So erst scheint er wirklich zur Welt zu kommen, zur Sprache, seine Existenz ist Literatur, Fiktion mithin, wie die die Geschichte des eigenen Lebensbeginns es ohnehin ist. Durch den Prozeß der täglichen Verdichtung im Schreiben seiner Briefe, eignet Kafka sich Leben an, verwandelt es in eigenes. Das, was von außen kam, Zufälle, Ereignisse, Zuschreibungen, Einschreibungen, wird im Prozeß der Verschriftlichung zu zweiter Geburt und damit zu einem immer offen gehaltenen werden.
Aber was hat das mit Striptease zu tun? Im Striptease wird scheinbar nicht verdichtet, finden wir allerdings verdichtet kulturelle Codes und Praktiken vor. Während die Schalen einer Zwiebel erst einmal entfernt werden müssen, damit sie genießbar wird, die Stripperin ihre Kleider sorgfältig entblättert um das Genießen des Begehrens zu ermöglichen, wird das ich des Briefeschreibers Kafka genießbar (vor allem für sich selbst) erst durch das Hinzufügen einer weiteren Schicht, der Schrift, der Literatur. Im Striptease wird umgekehrt nur scheinbar eine Schicht abgetragen, um etwas zu zeigen. Das Zeigen des Entzugs jedoch fügt der Schichtung eine weitere hinzu, eine Schrift, eine Spur. Die Nacktheit verweist auf Natur, diese aber bleibt künstlich, nicht nur in Bezug auf den Körper der Stripperin. In Striptease For Mimi The Cat werden die Prozesse des Zeigens und Entziehens, der Durchstreichung und Eliminierung vorgeführt, die Identität und Subjektivität erzeugen. Wie ein rückwärts laufender Film entsteht ein Zerrbild dieser Vorgänge, deren Spuren nicht getilgt werden können. Die von anderen erzählte und erzeugte Geschichte wird performativ angeeignet, wieder-holt, in Szene gesetzt. Dieser Striptease wäre demnach ein Portrait, ein Selbstportrait, oder vielleicht eine Autobiogaphie?
Gebürtig: Frauen, wenn sie heirateten, früher, nahmen den Namen der Gatten an. An die Stelle des Namens des Vaters trat der Name des Vaters, an die der Herkunftsfamilie die der Nachkommenschaft. Dann stand im Paß – oder steht vielleicht auch heute noch – geborene Schulz, Schmidt, Meier, gebürtig in der Stadt so und so. Hannah Arendt hat mit ihrer Theorie der Natalität eine Antwort auf Heideggers Begriff der Geworfenheit entwickelt. Es gibt einen Lebensbeginn, einen, der mit Schmerz und Trennung verbunden ist, die deutsche Sprache hat ein schönes Wort dafür, eine Ent-Bindung. Die vormals symbiotische Verbindung zwischen Mutter und Kind, die einzige wirkliche Symbiose, von der man sprechen kann, endet hier und Individuation beginnt. Die Paarbeziehung der Eltern wird durch die Existenz eines Dritten vergesellschaftet, Hannah Arendt spricht davon, dass in der Liebe des Paares eine neue, eigene Welt entstehe, deren Ende die Geburt eines Kindes markiere. Denn ein Kind wird nicht unbemerkt geboren, sondern schon pränatal gesellschaftlicher Disziplin, Hygiene und Kontrolle unterzogen. Das Motiv des Paares, das zunächst darin bestanden haben mag, sich in narzißtischer Identifizierung mit dem Partner des eigenen Selbst zu vergewissern und weltflüchtig zu werden, gerät mit der Entbindung in eine Krise. Nicht nur Mutter und Kind werden getrennt, zwischen dem Paar steht nun das Kind, das zugleich scheidet und bindet, denn beide entwickeln als Vater oder Mutter eine eigene Dyade mit dem Neugeborenen. Zugleich stellt die Geburt das Ereignis schlechthin dar, das durch Entzug gekennzeichnet ist. Die Anfangserzählung des eigenen Lebens wird von anderen erzählt. Die Bewegung der einsetzenden eigenen Erinnerung gleicht der des Aufspringens auf einen bereits fahrenden Zug. Es gibt eine Erzählung von der Geschichte der Zeugung, Eltern, die ein Paar werden und dann, eines Tages, wird, nur zum Beispiel, Waltraud Höfinger, geboren werden. Diese Erzählung wird zum Leitmotiv des eigenen Lebens, sie wird immer schon begonnen haben, bevor ein Ich davon berichten kann. Der Lebensbeginn ist so gesehen das schlechthin außerhalb des Bewußtseins befindliche. Das Ereignis meiner Geburt ist das enigmatische Ereignis schlechthin, jener Moment, der als Beginn meines Lebens lebenslänglich alljährlich gefeiert wird. Als Ursprung meiner Existenz bleibt er mir aber verborgen und determiniert mich dennoch wesentlich. In seiner unter Pseudonym geschriebenen Autobiographie, der er einen anderen Namen gab und die mit einem Zitat aus einem berühmten Roman begann, hat Stendhal die Frage thematisiert, wie ich denn wissen könne, daß dieser Tag meiner Geburt tatsächlich der Tag meiner Geburt war? Wenn alles gut geht, freuen sich die Eltern und beginnen ein Archiv, auf das ich mich später beziehen kann. Hannah Arendt nennt das die Bedingung gelingenden Beginnens: das Willkommensein in einer Gemeinschaft. Zugleich stellt dieses Archiv eine Entfremdungserfahrung dar – diese Erzählung bleibt fremd, kommt von außen und soll doch den Kern des eigenen Wesens beschreiben. Die Selbstwahrnehmung beginnt mit der Wahrnehmung von anderen.
Wahrnehmung: Maurice Merleau-Ponty hat die philosophische Phänomenologie auf ihre Grundbedingungen hin befragt und die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung untersucht. Wahrnehmung ist unselbstverständlich und bedarf der Erklärung. Ästhetik von aisthesis aus gedacht, von der Wahrnehmung aus also, hat auch hier ihren Ursprung. Wahrnehmung selbst ist kein natürlicher Vorgang, sondern wird erlernt. Ohne das Faktum der Geburt und der nachfolgenden Abhängigkeit von anderen, der Vorzeitigkeit von Geburt, die den Menschen - mit einem Wort von Helmut Plessner - in eine exzentrische Positionalität bringt, ist auch an die Ästhetik als Theorie des Schönen nicht zu denken. Exzentrisch, also außerhalb des Zentrums, ist die Position des Menschen qua Selbstbezüglichkeit auf sich und dieser Selbstbezug trägt zudem die Züge der Fiktion von anderen, wesentlich des Paares, dessen Verbindung das Individuum seine Existenz verdankt. Die exzentrische Positionalität des Menschen verweist demnach darauf, daß nicht nur das eigene Ich sich immer im werden befindet, sich in Bezügen vollziehend. Es erscheint die imaginäre Verkennung, die, wie Lacan in seinem Aufsatz “Das Spiegelbild als Bildner der Ich-Funktion” behauptete, am Ursprung des Ich dessen Existenz und zugleich dessen Millieu determiniert. Dieses Millieu wird in Striptease zum Thema. Individuelles und Kollektives verschmelzen und so entsteht im doppelten Sinne eine Legende. Nicht jubilatorisch angesichts des eigenen Spiegelbilds, sondern emanzipatorisch über die Produktion des Selbstbildes agiert hier die Künstlerin. Der Bildungsgedanke wird subvertiert, Weiblichkeit dekonstruiert. Der zentrale Gedanke der Bindung, die – egal an wen oder was sie erfolgt – das Selbst erst ermöglicht und generiert, wird als Verlust gezeigt, als das, was wir selbst von uns nicht wissen.
Legende: Kartenlegenden erklären am unteren oder oberen Rand oder egal wo, jedenfalls auf der Karte, was welche Zeichen bedeuten, worauf sie verweisen. Heiligenlegenden verweisen auf reale historische Personen, haben diese aber meist nicht zum Gegenstand, sondern überhöhen eine individuelle Biographie im Dienst einer kollektiven Sache, einer sinnstiftenden und meist moralisierenden Erzählung.
Natur: Spätestens seit der Vertreibung aus dem Paradies (auch eine Legende?) ist der Bezug auf Natur ein Problem. Metaphysik nannte man die Bücher des Aristoteles, die nach der Physik erschienen, das, was nach der Natur kam. Aus dieser eher zufälligen Setzung entstand eine ganze philosophische Tradition. Zu Zeiten als Synonym für die Philosophie gebraucht, schien die Metaphysik seit dem 19. Jahrhundert vornehmlich in pejorativem Sinne genannt werden zu können. Das was nach der Natur kommt, blieb nurmehr die Wissenschaft von der Natur, letzte Fragen nach Sinn und Sein verblassten und wurden dekonstruiert als Vehikel einer totalitären Vernunft, die unerklärliches in ihren Dienst nahm. Metaphysik aber postuliert kein esoterisches Geheimwissen, sondern wagt das Neue. Das, was wir körperlich erfahren, das, was wir sind und wie wir es sind, kann nicht nur aus dem erklärt werden, was der herrschende Diskurs aktuell diktiert. Das Wahrnehmbare ist nicht zugleich das Wahre, so einfach ist das. Politisches Theater, das sich mit den Vorgängen befaßt, die gesellschaftlich relevant sind und Machtverhältnisse reguliert, hat immer auch einen utopischen Bezug. Utopisch das heißt ohne einen Ort, außerhalb der jetzigen Zeit, eine Vision, vielleicht Metaphysik.
Was nach der Natur kommt war auch eine Frage des Feminismus spätestens seit den 70er Jahren. Die Gleichung Frau = Natur ging nicht auf, ein neuer Algorhytmus war nicht gefunden. Die sexuelle Rebellion hat meine Lehrerin und Freundin Gerburg Treusch-Dieter als Vehikel der Entfernung des Lebens aus dem Körper der Frau gesehen. Die Dialektik von Befreiung und Verstrickung in patriarchale Machtstrukturen von Aufklärung und Vereinnahmung brilliant analysiert. Metaphysik war mit Aristoteles immer ein frauenfeindliches Unterfangen, auch das habe ich von Gerburg Treusch-Dieter gelernt. Deshalb Achtung! Achtung: Metaphysik! Vielleicht aber kommen wir nur weiter mit einer List und damit, genau die Instrumente zu nutzen, die die Gegenseite eingesetzt hat, um den Wissenstransfer paternalistisch zu regulieren? Verdunklung also statt Aufklärung, Mystik satt Rationalität, Weiblichkeit statt Emanzipation. Aber unter der Bedingung der Überidentifikation – Subversion durch Affirmation.
Kröten/Prinzessinen Das ‘Wörterbuch des Aberglaubens’, so Gerburg Treusch-Dieter in ihrem Text “Schlamm & Damm”, berichtet seitenweise über die Kröte: “Dass die Kröte das metamorphotische Organisationsprinzip der Körper symbolisierte geht nicht nur aus der Unzahl der in diesem ‘Wörterbuch’ empfohlenen Heil-Riten hervor, sondern auch aus dem Märchen vom ‘Froschkönig’. Die Frosch-Gestalt des Prinzen in diesem Märchen wird zwar als ekelerregend dargestellt, aber die Prinzessin, die ihm dazu verhilft, dass er sie ablegen kann, ist dennoch von Lust erregt, vor allem beim Spiel, das beide an einer Quelle treiben.”
Pierre Bourdieu (1930 – 2002) war einer der wichtigsten Soziologen der Gegenwart und zählte zu den führenden Intellektuellen Frankreichs. Er lehrte am Collège de France.
Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) war Schriftsteller und Philosoph.Von Heidegger inspiriert wurde seine Auffassung des Existentialismus der Freiheit zur Mode. Mit Simone de Beauvoir lebte er in Hotels und schrieb in Pariser Cafés. Er prägte das Bild des Intellektuellen in Frankreich, der sich immer in politisches Geschehen einmischt.
Laura Mulvey (*1941), britische Filmtheoretikerin, Professorin für “Film and Media Studies” an der University of London. Bekannt wurde sie mit ihrem Aufsatz
“Visuelle Lust und narratives Kino”, indem sie erstmals in der Geschichte der Filmwissenschaft Freud und Lacan für Filmanalyse fruchtbar machte und einen feministischen zugang eröffnete. Sie verwendete die psychoanalytischen Theorien in politischer Absicht. Das Bild der Frau im Film nutze dem Patriarchat und stelle sie (als Bild) still, m.a.W. es übe Gewalt aus. Mulveys Ansatz blieb nicht ohne Kritik. Dennoch ist der Aufsatz bis heute einer der Klassiker der Filmwissenschaft.
Dichotomie griech.: Zerschneidung in zwei Teile, Zweiteilung, in der Logik Einteilung nach zwei Gesichtspunkten
Leszek Kolakowski (*1927) polnischer Philosoph, der besonders von den frühen Schriften Karl Marx beeinflußt ist.
Michel Foucault (1926 – 1984) französischer Philosoph. Lehrte “Geschichte der Denksysteme” am Collège de France. Seine Arbeiten zur Geschichte des Gefängnisses, der Psychiatrie und der Sexualität begründeten seinen internationalen Ruhm.
Hannah Arendt (1906 – 1975) Philosophin aus deutscher jüdischer Familie, lebte und lehrte in New York an der New School for Social Research. Dissertation über den “Liebesbegriff bei Augustinus”, wurde berühmt mit einer Reportage über den Prozeß gegen Joseph Eichmann in Jerusalem, die “Banalität des Bösen” und mit “Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft”.
Natalität deutsch Geburtigkeit. Im Gegensatz zur Sterblichkeit vernachlässigte Grundbedingung menschlicher Existenz.
Geworfenheit von Martin Heidegger (deutscher Philosoph, 1889 – 1976, der die europäische Philosophie des 20. Jahrhunderts durch sein Werk “Sein und Zeit” maßgeblich beeinflußte) verwendeter Begriff um das menschliche Dasein im Zustand der Weltfremdheit zu beschreiben. Wir sind demnach geworfen in eine uns fremde Welt, die es durch Akte, durch Handeln ( => Sartre/Existenzialismus) anzueignen gilt.
Individuation lat. sich untrennbar machen, die Sonderung eines Allgemeinen in Individuen, Besonderheiten.
Dyade von griech. Dyas = Zweiheit, in der Pschologie und der Psychoanalyse insbesondere die Bezeichnung der Mutter-Kind Dyade, einer symbiotischen Verbindung. Im Gegensatz zum ödipalen Dreieck, der Triade aus Mutter, Vater und Kind stehend.
Stendhal (1783 – 1842), eigentlich Marie-Henri Beyle, war ein französischer Schriftsteller. Benannte sich nach dem Geburtsort des Archäologen Winckelmann Stendhal und setzte sich in seinem schriftstellerischen Werk immer wieder mit der Frage der Autobiografie auseinander.
Ästhetik seit Alexander Gottlieb Baumgarten (deutscher Philosoph, 1714 – 1742) eigenständige philosophische Disziplin, die sich nicht nur mit dem Schönen, sondern in erster Linie mit den Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung auseinandersetzt.
Helmut Plessner (1892 – 1985) deutscher Philosoph und Soziologe, Hauptvertreter der philosophischen Anthropologie, der philosophischen Disziplin, die sich mit dem Wesen des Menschen befasst. Hauptwerke: “Die Stufen des Organischen und der Mensch” und “Lachen und Weinen”.
Exzentrische Positionalität bezeichnet im Werk Helmut Plessners die Stellung des Menschen und seine wechselseitige Beziehung zu seiner belebten und unbelebten Umwelt. Positionalität bezeichnet dabei die Eigenschaft lebender Körper, ihre Grenze zur Umwelt zu erhalten, „exzentrisch“ bezieht sich auf die dem Menschen eigene Reflexivität in Bezug auf seine Stellung als Körper in der Welt.
Jacques Lacan (1901 – 1981) französischer Psychiater und Psychoanalytiker der mit einer Rückkehr zu Freud diesen neu interpretierte und radikalisierte.
Gerburg Treusch-Dieter (1939 – 2006) deutsche Soziologin, die in der Tradition Michel Foucaults die Herausbildung der Geschlechterdifferenz seit der Antike untersuchte. Unterrichtete u.a. an der FU Berlin, der UdK Berlin und der Akademie der Bildenden Künste Wien.

[1] Kolakowski, Leszek: “Erkenntnistheorie des Striptease”, in: Leben trotz Geschichte. München 1980, S. 100.

[2] Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. 2005, S. 115.

[3] Bourdieu, a.a.O., S. 117.